Geflüchtete Jugendliche erforschen in einem Kongress ihre Zukunft
In unzähligen Kongressen und Tagungen zerbrechen sich Expert*innen den Kopf über diese Jugendlichen. Aber sie, die Jugendlichen, sind die eigentlichen Expert:innen, weil sie Erfahrungen gemacht haben und mitbringen, die wir nicht haben. Sie haben in der Heimat und unterwegs schreckliche Situationen erleben müssen, haben alles verloren und wurden in eine völlig fremde Umgebung gestoßen.
Das FRIEDENSBAND-Team bestand aus Günter Haverkamp und Thalia Tissen (Idee und Moderation) und Jasmin Malonde, Klara Stein, Tanja Stöffken.
Am 03. Mai 2016 fand von 08.00 bis 13.00 Uhr der Kongress geflüchteter Jugendlichen in der Aula der Gemeinschaftshauptschule Dumont-Lindemann-Schule in Düsseldorf statt. Beteiligt waren die zwei Klassen SE 1 und SE 3 (SE= Seiteneinsteiger) in denen jeweils etwa 15 Jugendliche aus verschiedenen Ländern (Syrien, Afghanistan, Armenien, Irak, Mazedonien, Polen u.a.) auf den Regelunterricht vorbereitet werden.
Zusammen mit den zugewanderten Jugendlichen der Klassen SE1 und SE3 hatten wir zuvor Themen im Projekt „Zukunft – eine Falle“ erarbeitet, die den Jugendlichen und unserer Gesellschaft auf den Nägeln brennen.
Dieser Kongress sollte die Jugendlichen anstoßen, nach dem Spruch „Leben und leben lassen“ ihre aktuelle Situation und ihre Zukunft zu erfassen. Im Mittelpunkt steht wie bei fast allen Projekten von FRIEDENSBAND die Meinungswand: Aus einer 50-Meter-Papierrolle (61 cm breit) wird ein mehrere Meter großes Stück geschnitten und zusammen mit dicken Filzschreibern auf den Boden gelegt. Das hat Aufforderungscharakter, dem sich die Jugendlichen kaum entziehen können.
Das Video
Der Kongress wurde begleitet vom Filmemacher Christian Deckert. Für seine behutsame, sich nie einmischende Filmarbeit, aber auch für seine Tipps inhaltlicher Art herzlichen Dank! Sein Video gibt die Atmosphäre sehr gut wieder: Das Video zum Kongress, gedreht von Christian Dechert
Schritt 1: Was ist Freiheit?
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Wir wollten die Jugendlichen dort abholen, wo sie gerade den größten Vorteil ihrer jetzigen Situation sehen: In Freiheit und Sicherheit leben zu können |
Im Stuhlkreis sitzen die 30 Jugendlichen. In der Mitte liegt die Meinungswand mit einem Piktogramm in der Mitte: Ein Mann auf einem Gipfel breitet in großer Geste seine Arme aus. Ein starkes Freiheitsgefühl liegt in diesem Bild.
Den Jugendlichen sagen wir dazu: „Freiheit endet dort, wo sie einem anderen diese wegnimmt. Was passiert, wenn ich meine Arme weit ausbreite wie der Mann auf dem Piktogramm?“ Prompt ahmt ein Mädchen das nach, zum Entsetzen ihrer Nachbarn, die plötzlich ihre Arme vor dem Gesicht haben. Jeder versteht dieses Bild. Andere machen das nach. Sie spüren, das falsch verstandene Freiheit die Unfreiheit des Nachbarns sein kann.
Nun stürzen sich die Jugendlichen auf die Meinungswand und schreiben ihre Assoziationen zu FREIHEIT auf. „Keine Angst haben müssen“ – „Respekt“ – „Glück“ – „Sein Leben leben“ – „Schule“ – „Eigene Meinung“ – „Reisen“. Die einzelnen Stichworte werden intensiv besprochen.
Bei der Nachbesprechung ist den Jugendlichen besonders das Wort „Respekt“ und „Sein Leben leben“ wichtig. Ein positives Gefühl für die Freiheit, die sie hier erleben, entstand.

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Schritt 2: Was ist Gastfreundsachaft?
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In ihren Herkunftsländern ist die Gastfreunschaft eine besondere Verpflichtung. Deswegen knüpfen wir die Überlegungen über ihre Zukunft an diese Tradition. |
In einem Sketch testen die Jugendlichen zwei Situationen aus: Einmal sind es die Gastgeber, denen die Gäste das Leben schwer machen und ein anderes Mal die Gäste, die von den Gastgebern schlecht behandelt werden.
Alle schauen gebannt zu, was da auf der Bühne der Aula stattfindet und darüber wird hinterher auch sehr intensiv diskutiert.

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Schritt 3: Welche Vorurteile haben wir?
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Wir alle haben Vorurteile. Dabei sind einige, über die man lachen kann, andere, über die man sich ärgern kann. Könnt ihr über uns, die Deutschen lachen? Welche Vorurteile kennt ihr, vielleicht auch euch selbst gegenüber? |
Auf der Meinungswand kommt einiges zusammen: „Mädchen sind intelligent – Jungs sind dumm“ schreibt ein Mädchen. Prompt steht ein Junge auf und dreht den Satz mit Pfeilen um – heftige Reaktionen bei den Mädchen! – „Alle Männer sind alle gleich“ – „Aggressive Männer“ kommt von den Mädchen. Aber auch: „Flüchtlinge wollen nur unser Geld“ – „Deutsche sind pünktlich“ – „Polen klauen“. Es machte den Jugendlichen großen Spaß, die Rollen zu verdrehen, sich selbst zu verunglimpfen und darüber zu lachen. |
Schritt 4: Der weiße Ritter
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Frage an die Jugendlichen, ob sie in ihrer Kultur auch eine Figur kennen, die für das Gute steht. So wie der tapfere weiße Ritter, der die Frauen schützt und den Armen hilft und Unrecht bekämpft. Alle kannten eine solche Gestalt aus ihrer Kindheit. |
Die Vorstellung, im Zweifelsfall an dieses Ideal anzuknüpfen, wenn sie in der neuen Welt nicht genau wissen, was gut ist und was nicht, gefiel den Jugendlichen. |
Schritt 5: Fußstapfen
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Zur Auflockerung malten die Jugendlichen zwischendurch Fußstapfen aus, die den Weg symbolisieren sollten, den sie in ihrer Herkunftsgesellschaft bereits zurückgelegt haben, den des Weges zu uns und den natürlich, den sie noch in unserer Gesellschaft vor sich haben. |
Das wurde ein spannender Prozess, der mehr Zeit in Anspruch nahm, als gedacht. Die Jugendlichen waren sehr mit ihren Fußstapfen und dem Weg, den ihre Füße genommen haben beschäftigt.


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Die Gruppenarbeit
1. Arbeitsgruppe „Frauenrechte“
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Eine reine Mädchengruppe sollte sich mit den Rechten beschäftigen, die sich in Deutschland erhoffen |
Diese Arbeitsgruppe bestand aus neun Mädchen. Sie sollten die Gelegenheit haben, sich ungestört mit ihren Vorstellungen einer Rolle als Frau in unserer Gesellschaft zu beschäftigen. Welche Rechte und Möglichkeiten haben Frauen in ihrem Heimatland – welche hier? Welche werden auch hier von ihrer familiären Umgebung eingeschränkt? Was können und wollen sie fordern? |
2. Arbeitsgruppe „Meine Schwester – deine Schwester“
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Eine reine Jungengruppe sollte sich mit ihrem Frauenbild beschäftigen. Dazu hatten wir ein eher anzügliches Coverfoto von einer Bon Prix-Zeitschrift gezeigt. |
In dieser Arbeitsgruppe setzten sich die Jungens mit ihren Frauenbildern auseinander. Der Titel deutete darauf hin und so haben wir es auch eingeleitet: „Du möchtest, dass deine Schwestern Respekt entgegen gebracht wird.“ Und mit dem Verweis auf das Coverfoto: „Nimm an, das ist meine Schwester. Würdest du ihr auch mit Respekt entgegentreten?“ Das war für die Jugendlichen nicht leicht und es gab viele Diskussionen darum.
Wie stehen die Jugendlichen zur Gewalt? Sind sie bereit sich für die Rechte der Frauen einzusetzen – für deutsche und für Frauen ihrer Kultur? Gab es in ihrer Kindheit einen Helden, der gut war, Frauen schützte und sich für das Gute einsetzte? Können sie ihm nacheifern, auch in Deutschland mit seinen Freiheiten?


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3. Arbeitsgruppe „Gastgeber“
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Jugendliche versetzen sich mit die Rolle des Gastgebers auseinander. Was sind seine beinahe heiligen Pflichten in ihrer Heimat, die dem Gast die Tür öffnet und ihn willkommen hießt. |
Ja, diese Pflichten wurden sofort auch benannt, zeitgleich brachten die Jugendlichen aber kulturübergreifend das Bild von Gäste zu Papier, die einfach nicht gehen wollen und die man nicht los wird, ohne das Gesicht zu verlieren. |
4. Arbeitsgruppe „Gast“
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In der anderen Arbeitsgruppe setzten sich die Jugendlichen mit der Rolle der Gäste auseinander. Wie soll sich ein Gast seinem Gastgeber gegenüber verhalten. |
Respekt war ein wichtiger Begriff in dieser Runde. Einhellig wurde die Regel genannt, die Wünsche des Gastgebers zu respektieren und die Gastfreundschaft nicht auszunutzen. |
Fazit der Arbeitsgruppen
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Anschließend tauschten die Arbeitsgruppen ihre Erfahrungen aus. Die Mädchen waren viel selbstbewusster geworden, die Jungen hatten einige nachdenkliche Formulierungen. |
Die Arbeitsgruppen „Frauenrechte“ und „Meine Schwester – deine Schwester“ tauschten ihre Vorstellungen aus und waren sich über die kulturellen Unterschiedlichkeiten einig: Es gilt, die Frauenrechte in der neuen Heimat zu übernehmen. Die Mädchen waren von der Herangehensweise begeistert und brachten ihre Wünsche deutlich und selbstbewusst vor. Aber es schien auch den Jungs deutlich geworden sein, dass sie die Mädchen respektieren müssen. Oft wurde gesagt, dass es in ihrer Heimat anders ist, dass sie es aber gut finden, dass es hier den gegenseitigen Respekt gibt.
Auch die beiden Arbeitsgruppen „Gastgeber“ und „Gast“ haben die Regeln, die einer guten Gastfreundschaft auf beiden Seiten zu beachten sind, notiert und sich Gedanken darüber gemacht. Sie sahen viele Parallelen zu dem Leben hier in Deutschland. Es gibt den Gastgeber und sie sind die Gäste. Bis, und das schien ein Wunsch vieler zu sein, sie selbst hier Gastgeber sind und Gäste annehmen können. |
Plenum und Resolution
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Leider war uns die Zeit davongelaufen und so konnten wir das Plenum und damit die Resolution nicht mehr entwickeln, bevor die Journalist:innen und Politiker:innen dazukamen. Die aber waren dann Zeuge eines Prozesses, den sie fast nicht glauben konnten. |
Von den vier Arbeitsgruppen wurden die wichtigsten Kernsätze und Regeln, die die Jugendlichen erarbeitet hatten, auf dem Resolutionstransparent zusammengetragen.
- Frauen dürfen Politik machen
- Frauen dürfen jeden Beruf ausüben
- Frauen haben das Recht auf Bildung
- Gäste müssen sich respektvoll verhalten
- Gäste müssen freundlich sein
- Gäste müssen dankbar sein
- Gastgeber sollten nett sein
- Die Kommunikation zwischen Gastgeber und Gast muss stimmen
- Wir respektieren uns gegenseitig
- Wir unterstützen die Frauen
- Männer und Frauen sind höflich zueinander
- Gastgeber soll auf Wünsche eingehen
Es war eine fast feierliche Stimmung bei den Jugendlichen, als sie nach und nach ihre Resolution entstehen sahen, die sich an sie selbst ebenso wie an die Gesellschaft in Deutschland richtete.
Die JournalistInnen von Rheinischen Post und Neuer Rhein Zeitung schrieben intensiv mit und befragten anschließend die Jugendlichen, Lehrer:innen und Mitarbeiter:innen von FRIEDENSBAND.
Mitten unter den Jugendlichen saß auch die grüne Landtagsabgeordnete Karin Schmitt-Promny. Im Schlusswort wandte sie sich an die Jugendlichen und bedankte sich für das Bild, das sie mitnehmen wolle. Die Ernsthaftigkeit, mit der sich die Jugendlichen den gesellschaftlichen Themen und ihrer eigenen Zukunft widmeten, habe einen großen Eindruck auf sie gemacht und sie sprach sich dafür aus, solche Projekte mit geflüchteten Jugendlichen weiterzuführen.


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Das Projekt wurde durch den Minister für Bundesangelegenheiten, Europa und Medien des Landes Nordrhein-Westfalen und Chef der Staatskanzlei als Projekt der europawoche 2016 anerkannt und mit 2000 Euro gefördert.
Die beiden Artikel in der Rheinischen Post und in der NRZ


Presseerklärung Kongress geflüchteter Jugendlicher
Kongress geflüchteter Jugendlicher